Kriminalwissenschaftliches Institut Forschung
Sozioökonomische Ungleichheit im Strafverfahren

Sozioökonomische Ungleichheit im Strafverfahren

Leitung:  Jana Kolsch
Jahr:  2014
Förderung:  Landesmittel
Laufzeit:  03/2014 - 07/2018
Ist abgeschlossen:  ja

Das Projekt: Sozioökonomische Ungleichheit im Strafverfahren

In der Strafjustiz gehört der Umgang mit Armut und sozialer Benachteiligung zum täglichen Geschäft der Strafverfolgungsbehörden. In überraschendem Kontrast dazu steht, dass aus empirischer - rechtssoziologischer, kriminologischer - Sicht über die Art und Weise des Umgangs der Strafjustiz mit Armut nur wenig bekannt ist.
Dabei stellt sich die Frage, ob sozioökonomisch schwächere Beschuldigte durch das Strafverfahrensrecht und die Strafverfolgungsorgane gegenüber besser gestellten Beschuldigten benachteiligt werden bereits mit Blick auf den Gleichheitssatz des Grundgesetzes. Insbesondere Massenverfahren der Alltagskriminalität, die auf der Seite der Strafverfolgungsbehörden durch einen hohen Erledigungsdruck und eine große Bereitschaft zur Verfahrenseinstellung und auf der Seite der Beschuldigten durch den häufigen Verzicht auf die Beauftragung professioneller Verteidigung und die Nichtwahrnehmung prozessualer Befugnisse gekennzeichnet sind, erweisen sich als potentielles Einfallstor für Benachteiligungen infolge sozioökonomischer Ungleichheit.

Forschungsziele

Das Projekt zielte darauf ab festzustellen, ob Beschuldigte in Strafverfahren infolge ungleicher sozioökonomischer Ausgangslagen ungleiche Chancen auf einen günstigen Verfahrensausgang haben. Dafür wurde der gesamte Strafverfahrensverlauf bei alltäglicher Kriminalität - vom Ermittlungsverfahren bis zur Sanktionsvollstreckung - analysiert, wobei die Opportunitätseinstellungen nach §§ 153, 153a StPO und das Strafbefehlsverfahren besonders berücksichtigt wurden.

Methoden

Untersucht wurden 404 Verfahren, die 2013 an zwei niedersächsischen Standorten - in den Landgerichtsbezirken Braunschweig und Hannover - wegen des Verdachts einer einfachen Körperverletzung nach § 223 StGB durchgeführt wurden. Der Untersuchung lag eine geschichtete Stichprobe zugrunde, in der staatsanwaltschaftliche Einstellungen wegen Geringfügigkeit (§ 153 Abs. 1 StPO), Einstellungen unter Auflagen und Weisungen (§ 153a Abs. 1 StPO), Strafbefehlsanträge und Anklagesachen in gleichem Umfang vertreten waren. Einstellungen wegen fehlenden Tatverdachts (§ 170 Abs. 2 StPO) und Verfahren nach Jugendstrafrecht blieben unberücksichtigt. Die zu den Verfahren angelegten Akten wurden mit standardisierten Erhebungsbögen erfasst und statistisch ausgewertet. Der sozioökonomische Status der Beschuldigten wurde anhand der aus den Akten ersichtlichen Angaben zum beruflichen Status, dem ausgeübten Beruf und dem Nettoeinkommen bestimmt und nach dem International Socio-Economic Index of Occupational Status (ISEI) codiert.

Ergebnisse

Die Untersuchung zeigte, dass sich sozioökonomische Ungleichheit der Beschuldigten zunächst in einer unterschiedlichen Einstellungswahrscheinlichkeit nach § 153a StPO niederschlägt: Mit zunehmendem sozioökonomischen Status sinkt die Anklagewahrscheinlichkeit und steigt die Wahrscheinlichkeit dafür, dass Verfahren unter Auflagen und Weisungen eingestellt werden. Bei der multivariaten Prüfung der Determinanten, die die Verfahrenseinstellung nach § 153a StPO anstelle der Verfahrensweiterführung (Strafbefehl und Anklage) beeinflussen, ergab die logistische Regression, dass der sozioökonomische Status (ISEI) neben der Belastung mit einschlägigen Vorstrafen der einflussstärkste Faktor war: Je höher der Wert des ISEI war, desto höher war die Wahrscheinlichkeit, dass das Verfahren nach § 153a StPO eingestellt wurde. Daneben verringerten sich die Einstellungschancen bei einer eher schweren Verletzung und einem weiblichen Opfer, während sie sich beim Ablegen eines (Teil-) Geständnisses und der Einschaltung eines Wahlverteidigers erhöhten. Allein mit den genannten Variablen konnte ein nennenswerter Anteil der Varianz der Einstellungsentscheidung erklärt werden (Nagelkerkes R2 = .247). Nahm man in die Berechnung anstelle des sozioökonomischen Status die dichotome Variable Arbeitslosigkeit (ja / nein) des Beschuldigten in die Berechnung auf, erwies sich auch dieser Umstand als bedeutsam (Nagelkerkes R2 = .216).

Erklärt werden kann der große Einfluss des sozioökonomischen Status bzw. der Arbeitslosigkeit mit den Handlungsroutinen der Staatsanwaltschaft: Bei der Auswahl der Maßnahme, die das Strafverfolgungsinteresse entfallen lassen kann, schöpfen die Staatsanwaltschaften die ihnen durch das Gesetz eröffneten Möglichkeiten in der Regel nicht aus, sondern verhängen schematisch eine Geldzahlungsauflage zugunsten einer gemeinnützigen Einrichtung oder der Staatskasse (§ 153a Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 StPO). Beschuldigten mit höherem Einkommen und Vermögen fällt es in diesem Zusammenhang leichter eine Geldzahlung anzubieten als schlechter gestellten Beschuldigten. Auch scheinen die Staatsanwaltschaften bei solchen Beschuldigten deshalb eher dazu geneigt sein, das Verfahren gegen eine Geldauflage einzustellen, weil ihnen diese Auflage unproblematisch realisierbar erscheint.

Die Untersuchung machte daneben ein Zweites deutlich: Im Strafbefehlsverfahren kamen die rechtlichen Instrumente, die eine annähernd gleiche Strafwirkung der Geldstrafe bei ökonomischer Ungleichheit der Verurteilten gewährleisten sollen – das Tagessatzsystem mit dem Nettoeinkommensprinzip sowie die Gewährung von Zahlungserleichterungen -, nicht zur Anwendung. Den Strafverfolgungsbehörden fehlen in den meisten Fällen die für die richtige Bemessung der Geldstrafen notwendigen Informationen zu den wirtschaftlichen Verhältnissen der Angeschuldigten. Das Nettoeinkommen, das nach dem Gesetz die Grundlage der Bemessung der Tagessatzhöhe bilden soll (§ 40 Abs. 2 StGB), war in der Stichprobe nur zu 18,8 % aus der Akte ersichtlich; in der Regel standen auch keine anderen Informationen zur Verfügung, aus denen die Staatsanwaltschaften zuverlässig auf die Höhe des Nettoeinkommens hätten schließen können. Ursache für das häufige Fehlen von Angaben über die Höhe des Nettoeinkommens war, dass die Beschuldigten in der weit überwiegenden Zahl der Fälle nicht zur polizeilichen Vernehmung erschienen waren und sich auch schriftlich nicht geäußert hatten. Die Tagessatzhöhen, die von den Staatsanwaltschaften in den ausgewerteten Verfahren trotz fehlender Kenntnis des Nettoeinkommens oder etwaiger Anhaltspunkte zu einer Schätzungsgrundlage nach § 40 Abs. 3 StGB beantragt und von den Gerichten in 98,0 % der Fälle unterschrieben worden waren, wiesen ein breites Spektrum auf; die Spanne reichte von 10 € bis 50 €, ohne dass in der Bemessung ein Schema erkennbar war. Die Schätzung erfolgte häufig „ins Blaue hinein“.Auch Zahlungserleichterungen wurden in den wenigsten Fällen verhängt (in 4,5 % der Strafbefehle). Dies geschah auch dann nicht, wenn ein Einkommen an der Grenze des soziokulturellen Existenzminimums aktenkundig war.

Die Konsequenzen zeigten sich im Vollstreckungsverfahren. Nimmt man alle Geldstrafen, die in den Strafbefehlen oder den Urteilen verhängt wurden, zusammen, so wurden die ausgeurteilten Geldstrafen zwar in 80,6 % der Fälle von den Verurteilten bezahlt. In 12,3 % der Entscheidungen musste die Geldstrafe jedoch wegen Uneinbringlichkeit wenigstens teilweise durch die Verbüßung einer Ersatzfreiheitsstrafe ersetzt werden (§ 43 StGB); zu einer wenigstens teilweisen Abwendung der Ersatzfreiheitsstrafe durch freie Arbeit (Art. 293 EGStGB) kam es nur in 6,7 % der Fälle. Bei der vergleichsweise hohen Quote vollstreckter Ersatzfreiheitsstrafen wirkte sich auch aus, dass in keiner der diesen Fällen zugrundeliegenden gerichtlichen Entscheidungen (Strafbefehle und Urteile), und im Vollstreckungsverfahren nur in gut einem Viertel der Fälle Zahlungserleichterungen bewilligt worden waren. Umgekehrt kam es in den Fällen, in denen Zahlungserleichterungen bereits im Urteil oder Strafbefehl bewilligt worden waren (§ 42 StGB), niemals zur Anordnung von Ersatzfreiheitsstrafe.

Diskussion

Die festgestellte Benachteiligung ärmerer Beschuldigter bei der Verfahrenseinstellung ist mit dem Gedanken der Verfahrensgerechtigkeit nicht vereinbar. Abhilfe lässt sich in der Weise schaffen, dass von den Staatsanwaltschaften bei sozioökonomisch schlecht gestellten Beschuldigten häufiger von anderen Auflagen oder Weisungen Gebrauch gemacht wird als von derjenigen der Geldzahlungsauflage. Bei Körperverletzungen ist vor allem der Täter-Opfer-Ausgleich (§ 153a Abs. 1 Satz 2 Nr. 5 StPO) häufiger in Betracht zu ziehen. Soweit eine Geldauflage in Betracht kommt, sollte deren Höhe am Gedanken der Belastungsgleichheit orientiert werden, wie er auch dem Recht der Tagessatzhöhenbemessung zugrunde liegt (§ 40 Abs. 2 StGB).

Die Schätzung des Nettoeinkommens „ins Blaue hinein“ verletzt das Verbot willkürlichen Strafens (so auch das BVerfG, vgl. Beschl. v. 01.06.2015, 2 BvR 67/15). Die Ursachen dieser Praxis sind dabei in der Durchführung von Strafbefehlsverfahren begründet. Es handelt sich hier oftmals um rein schriftliche Verfahren, bei denen die Strafzumessungstatsachen jedenfalls dann nicht aufgeklärt werden (können), wenn die Beschuldigten nicht zur polizeilichen Vernehmung erscheinen. Abhilfe ließe sich dadurch erreichen, dass die Beschuldigten häufiger von der Staatsanwaltschaft vernommen werden oder die Staatsanwaltschaft häufiger als bisher die Polizei mit der Durchführung weiterer Ermittlungen zum Strafzumessungssachverhalt beauftragt. Daneben ist es erforderlich, dass die Gerichte und Staatsanwaltschaften bei Angeklagten mit geringen Einkommen bereits im Urteil die nach § 42 StGB erforderlichen Zahlungserleichterungen gewähren, um das Risiko einer Verbüßung von Ersatzfreiheitsstrafe zu verringern.

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