Kriminalwissenschaftliches Institut Forschung
Strafzumessung bei Vollrausch (§ 323a StGB)

Strafzumessung bei Vollrausch (§ 323a StGB)

© Jakob Richter | Juristische Fakultät Hannover
Leitung:  Prof. Dr. Bernd-Dieter Meier
Team:  Anna Katharina Weiterer (Wissenschaftliche Mitarbeiterin), Shanna Marie Kubaric, Celina Weddige (Studentische Hilfskräfte)
Jahr:  2020
Förderung:  Deutsche Forschungsgemeinschaft
Laufzeit:  12/2020-4/2022
Ist abgeschlossen:  ja

Das Projekt

Strafe setzt Schuld voraus. Ist der Täter infolge übermäßigen Konsums von Rauschmitteln wie Alkohol oder Drogen zum Zeitpunkt der Begehung einer Straftat schuldunfähig, kann er wegen dieser Tat nicht bestraft werden. Der Tatbestand des Vollrauschs gemäß § 323a StGB soll die dadurch entstehende Strafbarkeitslücke schließen und stellt bereits das schuldhafte Sich-Berauschen unter Strafe. Die Strafbarkeit des Täters wird in diesem Fall allerdings davon abhängig gemacht, ob er im Rausch auch tatsächlich eine rechtswidrige Straftat begeht. Nach der herrschenden Auffassung in der Rechtswissenschaft handelt es sich bei der im Rausch begangenen Tat um eine objektive Bedingung der Strafbarkeit, die außerhalb des Tatbestands steht und auf die sich Vorsatz oder Fahrlässigkeit des Täters nicht beziehen müssen. Die im deutschen Strafrecht einzigartige Struktur der Norm stellt die Rechtsprechung wie auch die rechtswissenschaftliche Literatur vor Schwierigkeiten bei der Auslegung und Anwendung der Vorschrift. Insbesondere die Strafzumessung bei Vollrausch wirft eine Reihe von Fragen auf, die im Rahmen des Projekts näher untersucht wurden.

Forschungsziele

Ziel des Projekts war die Aufarbeitung der rechtsdogmatischen Hintergründe der Strafzumessung bei Vollrausch und die darauf aufbauende empirisch kriminologische Untersuchung der tatrichterlichen Praxis. Zum einen sollte gezeigt werden, in welchen Fällen die Tatgerichte von einer Strafrahmenverschiebung nach § 49 Abs. 1 StGB, insbesondere in Verbindung mit der verminderten Schuldfähigkeit des Täters (§ 21 StGB), Gebrauch machen und inwieweit sich eine solche auf Art und Höhe der Strafe auswirkt. Zum anderen wurde untersucht, ob die Tatgerichte unterhalb des Strafrahmens des Vollrauschs liegende Strafobergrenzen der Rauschtat berücksichtigen und wie diese bemessen werden. Weiterhin sollte analysiert werden, welche Faktoren maßgeblichen Einfluss auf die Strafzumessung im engeren Sinne haben. Hierbei lag ein besonderer Fokus auf dem Einfluss der konkret verwirklichten Rauschtat und den zugehörigen tat- und täterbezogenen Umständen. Zuletzt sollten die in der Praxis verhängten Sanktionen, vor allem die Relevanz von Maßregeln der Besserung und Sicherung neben einer verhängten Strafe dargestellt werden.

Methoden

Die Untersuchung bediente sich der Methode der Aktenanalyse. Dazu wurde aus sämtlichen Verurteilungen wegen Vollrauschs nach allgemeinem Strafrecht im Jahr 2018 (nn = 1.011) eine repräsentative Stichprobe von 419 Strafverfahrensakten gezogen. Die Daten wurden quantitativ und qualitativ ausgewertet. Die in der Grundgesamtheit vorfindlichen 11 erstinstanzlichen landgerichtlichen Entscheidungen wurden vollständig und nur qualitativ ausgewertet.

Ergebnisse

Die Auswertung zeigte, dass die rechtsdogmatischen Probleme der Strafzumessung, die aus der Auslegung des Vollrauschs als abstraktes Gefährdungsdelikt resultieren, auch in der praktischen Handhabung und Anwendung problematisch sind und von den Tatgerichten nicht überzeugend aufgelöst werden können.

Obwohl das vom Täter schuldhaft verwirklichte Unrecht des Vollrauschs im abstrakt gefährlichen Sich-Berauschen gesehen wird, spielen Umstände des Sich-Berauschens bei der Strafzumessung, insbesondere bei der Verhängung von Freiheitsstrafen, nahezu keine Rolle. Erstaunlicherweise kommt insbesondere der Vorhersehbarkeit der Rauschtat bzw. einer Ausschreitung im Rausch weder ein bedeutsamer statistischer Einfluss auf das Strafmaß zu noch wird diese Tatsache in der richterlichen Strafzumessungsbegründung im Urteil in nennenswerter Zahl thematisiert. Das Gleiche gilt für die Unterscheidung in vorsätzliches und fahrlässiges Sich-Berauschen. Da für beide Tatbestandsalternativen derselbe Strafrahmen angedroht ist, ist aus theoretischer Sicht das fahrlässige Sich-Berauschen gegenüber dem vorsätzlichen Sich-Berauschen milder zu bestrafen. Praktisch schlägt sich diese Unterscheidung im Strafmaß jedoch nicht nieder.

Demgegenüber kommt der Art und Schwere der Rauschtat ein umso größerer Einfluss auf das Strafmaß zu. Allein anhand der Deliktschwere der Rauschtat können zwischen 30 und 40 % der Varianz der Strafhärte im Rahmen multivariater Analysen erklärt werden. Mit zunehmender Schwere der Rauschtat steigt das Strafmaß ebenfalls an. Umgekehrt lassen sich bei den Rauschtaten mit dem geringsten Strafrahmen von Freiheitsstrafe bis zu einem Jahr oder Geldstrafe deutlich geringere Mittelwerte feststellen als bei Rauschtaten mit höheren gesetzlichen Strafrahmen. Anhand der Formulierungen in den schriftlichen Strafzumessungsbegründungen kann nicht festgestellt werden, dass die Rechtsprechung der Tatgerichte die Umstände der Rauschtat lediglich als „Indiz“ für die Gefährlichkeit des Sich-Berauschens bewertet. Die Begründungen lassen einen Bezug zum Sich-Berauschen in der überwiegenden Zahl der Fälle entweder in Gänze vermissen oder der Gesamtkontext der Strafzumessungsbegründung weist darauf hin, dass das Sich-Berauschen im konkreten Fall im Gegenteil weniger schwerwiegend ausfällt.

Die Untersuchung der Strafzumessung bei Vollrausch belegt, dass es sich bei der höchstrichterlich begründeten Berücksichtigung der Rauschtat als „Indiz“ für die Gefährlichkeit des Rauschs um eine inhaltsleere Floskel handelt, die keinen echten Vorwerfbarkeitsbezug zur Rauschtat begründen kann. Nach alledem stellt die derzeitige Strafzumessungspraxis bei Vollrausch, die sich maßgeblich an der Schwere der Rauschtat orientiert, einen Verstoß gegen das strafrechtliche Schuldprinzip dar.

Schlussfolgerungen

Zukünftig sollte die Rechtsprechung darauf verzichten, die Rauschtat auf Strafzumessungsebene strafschärfend zu verwerten, sofern sie an ihrer Auffassung des Vollrauschs als abstraktes Gefährdungsdelikt festhält. Dass die höchstrichterliche Rechtsprechung eine solche Kehrtwende vollzieht, muss in Anbetracht einer gefestigten Linie bezweifelt werden. Alternativ wird an den Gesetzgeber appelliert, den Tatbestand des Vollrauschs einer Reform zu unterziehen und für hohe Freiheitsstrafen über einem Jahr Dauer einen Vorwerfbarkeitsbezug zur Rauschtat auf tatbestandlicher Ebene zu fordern.

Publikationen

Anna Katharina Weiterer, Die Strafzumessung bei Vollrausch (§ 323a StGB). Eine rechtsdogmatische und empirische Untersuchung. Hannover, jur. Diss. 2022.